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Best of INSIDE Spezial: Elena Salmistraro

Null-Kilometer-Design

04.01.2024 | 9:33
Elena Salmistraro

In Mailand, genauer gesagt im Stadtteil Brera, also dort, wohin jährlich alle Macher im Möbelmarkt strömen, vor allem diejenigen aus der Fraktion der Designliebhaber, hatte Elena Salmistraro Kunst studiert, bevor sie an der Polytechnischen Universität Mailand in Modedesign im Jahr 2003 und später in Industriedesign im Jahr 2008 ihren Abschluss gemacht hat. Heute hat sie ihr Studio im Mailänder Viertel Ticinese. Lang ist die Liste der Markennamen, für die sie bislang gearbeitet hat. Vitra, Ikea, Alessi, Cappellini und Natuzzi gehören unter anderem dazu. Im Interview spricht die Designerin über die Sinnhaftigkeit kurzer Wege, die Authentizität und Seele von Design und die Angst vor Standardisierung (Ein Interview aus dem INSIDE Spezial Neue Ideen im Januar 2023).

INSIDE: Als Möbeldesignerin stehen Sie ja regelmäßig vor einer großen Aufgabe: Sie müssen praktisch aus dem Nichts etwas schaffen, das nicht nur Sie selbst, sondern auch alle anderen in der Wertschöpfungskette begeistert: Hersteller, Händler und – vor allem und schließlich – diejenigen, die das Möbel kaufen. Woran orientieren Sie sich dabei?

Elena Salmistraro: Aus der Designperspektive glaube ich, dass ein Qualitätsobjekt authentisch sein muss, ohne Masken, ein Design, das am besten die Geschichte dessen erzählen kann, der es entworfen hat, der es hergestellt hat und der es benutzen wird. Ein Qualitätsdesign geht meiner Meinung nach über seine primäre Funktion hinaus, geht über die technische Innovation hinaus und versucht, die Seele, die Gefühle und die Bedeutungen zu erforschen.

Etwas zu erforschen, das hört sich nach einem langwierigen Prozess an, der Zeit braucht. Da kam Ihnen die Situation der Pandemie insofern zugute, als dass Sie mehr Zeit dafür hatten? 

Ja, in der Tat. Die Pandemie an sich hat mir mehr Zeit für die Arbeit im Atelier gegeben. Sie hat unnötige Besprechungen und Reisen zugunsten von Videoanrufen überflüssig gemacht, und das ist in vielerlei Hinsicht positiv. Wenn wir jedoch über die Ursachen sprechen und sie als Umweltentropie betrachten, ändert sich der Diskurs. Ich versuche zu verstehen, wo die Produktion des Objekts stattfinden wird, so dass ich einige Entscheidungen eher reduzieren kann als andere, indem ich unnötige Bewegungen fast auf null reduziere und lokale Fähigkeiten und Ökonomien aufwerte, fast so, als wäre es ein Null-Kilometer-Design.

Wie haben Sie sich an die sich ändernden Kundenbedürfnisse in diesem sich neu entwickelnden Klima angepasst?

Zum Glück besteht meine Aufgabe darin, neue Vorschläge, Anregungen und Lösungen zu unterbreiten. Ich musste mich also nicht so sehr an neue Anfragen anpassen, sondern eher Lösungen finden. Das ist das Schöne daran, ein Designer zu sein: eine weitreichende Vision zu haben, sich eine andere, bessere Zukunft vorzustellen.

Wie sieht dann Ihre Vision der Zukunft aus?

Zeitgenössisches Design, wie ich es sehe, hat nicht nur eine Perspektive, nicht nur eine Vision, es lässt sich nicht auf einen Trend oder einen Stil reduzieren. Das Design von heute ist vielschichtig. Sicherlich ist die Beachtung des Lebenszyklus eines Objekts von grundlegender Bedeutung geworden, nicht nur aus der Sicht des Designers, sondern auch aus der Sicht der Hersteller und der Käufer. Es gibt viel mehr Bewusstsein in allen Phasen, Produkte werden unter mehreren Aspekten bewertet, man beurteilt ein Objekt heute nach seiner Kohärenz, nicht nur nach einer formalen und konzeptionellen Analyse.

Eigentlich hatte ich erwartet, dass Sie jetzt über Nachhaltigkeit sprechen – wie sieht es damit aus?

Das fängt an bei der Wahl der Materialien und der Herstellungstechniken: Je näher sie am Ort der Produktion sind und zu ihm gehören, desto mehr werten sie das Objekt in seiner inneren und kommunikativen Komplexität auf. Dann wird der Vertrieb verbessert, ohne zu viel zu produzieren, wobei alles, was nicht verwendet wird, wiederverwendet oder zumindest in den Kreislauf zurückgeführt wird, um die Umweltauswirkungen so weit wie möglich zu begrenzen. Nachhaltigkeit ist für mich ein Synonym für Harmonie.

Und digitale Technologien sind für Sie ein Synonym für …

Die Technologie war in meinen Projekten immer präsent, aber sie war selten der Protagonist, weil ich nach wie vor eine distanzierte Beziehung zu ihr habe und sie ständig erforsche. Ich bin wie ein Kind, fasziniert von Neuem, aber gleichzeitig ängstlich, deshalb wäge ich alle meine Entscheidungen ab. Im Entwurfsprozess konnte ich jedoch nicht darauf verzichten, auch aus Gründen des Timings. 

Aber Sie fühlen sich im Umgang mit dem Analogen wohler, richtig?

Das Analoge hat einen ganz anderen Output, braucht aber Sorgfalt, Zeit und Aufmerksamkeit, die ich mir zurzeit selten leisten kann. Ein Beispiel ist vor allem die Verwendung von Grafiktabletts und 3D-Modellierungssoftware, was für mich, die von der Malerei und Bildhauerei kommt, eine komplexe und sehr schmerzhafte Umstellung war, die ich aber heute nicht mehr aufgeben kann.

Nutzen Sie dann 3D-Drucker?

Der 3D-Druck ermöglicht es im Moment, sehr schnell Volumen, Proportionen und Modellteile zu überprüfen. Er ist sehr benutzerfreundlich und ein weiterer von vielen Aspekten der Technologie, auf die ich heute kaum noch verzichten könnte. Natürlich spreche ich immer vom Designprozess, aber was die Vermarktung oder die Verwendung von 3D-gedruckten Teilen für die direkte kommerzielle Vermarktung angeht, bin ich noch sehr skeptisch. Es handelt sich um eine Technologie, die noch sehr lange Vorlaufzeiten und überhöhte Kosten für die Industrie erfordert, um eine hohe Fertigungsqualität zu erreichen. Wahrscheinlich wird es in Zukunft Lösungen geben, aber ich denke, es gibt noch viel zu tun.

Mal abgesehen davon, ob sie analoge oder digitale Hilfsmittel verwenden: Worauf achten Sie bei Ihren Entwürfen besonders? Ist Ergonomie ein wichtiges Thema?

Ergonomie ist etwas, das mich schon immer fasziniert hat, und zwar von der anderen Seite her. Normalerweise werden Proportionen, Höhen und Lösungen vorgeschlagen, studiert und an „normalen“ menschlichen Körpern überprüft, als ob wir alle 180 Zentimeter groß wären und athletisch aussehen würden. In Wirklichkeit wissen wir aber, dass dies zum Glück nicht der Wahrheit entspricht, dass wir alle unterschiedlich groß sind und eine unterschiedliche Statur haben. 

Also gibt es den perfekten Stuhl gar nicht?

Für mich hatte die Suche nach dem perfekten Stuhl oder Sofa nie Priorität, es gibt bereits zu viele Varianten. Ich konzentriere mich lieber auf den Komfort. Den soll eine zwei Meter große Person genauso genießen können wie eine anderthalb Meter große, eine 60 Kilogramm schwere Person genauso wie eine 110 Kilogramm schwere. Standardisierung macht mir Angst. 

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